Musica Viva DVD 3
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Musica Viva DVD 3
“…Zwei Gefühle …”
Die “… Zwei Gefühle …” sind inzwischen ebenso wie “Mouvement” ein Repertoirewerk der international bedeutenden Kammerensembles geworden. Mit “… Zwei Gefühle …” formulierte Lachenmann zudem einen ersten zentralen Beitrag zu seiner 1997 uraufgeführten Oper “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” – dort ist die kompositorische Auseinandersetzung mit dem Text von Leonardo da Vinci in den Ablauf des zweiten Teils eingebettet.
Beschreibung
“…Zwei Gefühle …”
Die “… Zwei Gefühle …” sind inzwischen ebenso wie “Mouvement” ein Repertoirewerk der international bedeutenden Kammerensembles geworden. Mit “… Zwei Gefühle …” formulierte Lachenmann zudem einen ersten zentralen Beitrag zu seiner 1997 uraufgeführten Oper “Das Mädchen mit den Schwefelhölzern” – dort ist die kompositorische Auseinandersetzung mit dem Text von Leonardo da Vinci in den Ablauf des zweiten Teils eingebettet.
UA Stuttgart, 9. Oktober 1992
Das Werk ist 1991/92 entstanden. Ein großer Teil davon wurde im leerstehenden Haus Luigi Nonos auf Sardinien geschrieben. Keine Frage, daß die Erinnerung an ihn meine Vorstellungen damals mitbestimmt hat.
Meine Arbeit an diesem Stück ging von der Erfahrung aus, daß gerade das “strukturell” gerichtete Hören, das heißt das beobachtende Wahrnehmen des unmittelbar Klingenden und der darin wirkenden Zusammenhänge, verbunden ist mit inneren Bildern und Empfindungen, die von jenem Beobachtungsprozeß keineswegs ablenken, sondern untrennbar mit ihm verbunden bleiben und ihm sogar eine besondere charakteristische Intensität verleihen.
Es ist die eigenartige Situation, wo beim Dechiffrieren einer uns betreffenden Nachricht die unmittelbare Wahrnehmungsarbeit: das – möglicherweise mühsame – Erkennen und Zusammentragen der Zeichen einerseits und die Kraft der sich abzeichnenden Botschaft andererseits tatsächlich eng zusammengehören, gar einander bedingen und einen geschlossenen Erlebniskomplex bilden.
Die beiden Sprecher des Leonardo-Textes in “… Zwei Gefühle …” sind quasi sich ergänzende Bewusstseins-Hälften eines imaginären Wanderers und still staunenden Lesers. Sie selbst fungieren gleichsam bewußtlos wie die ineinander arbeitenden Hände eines am Sehen Gehinderten, der jenen Text wie eine kostbare Inschrift ertastet, indem er deren Sprachpartikel einzeln ergreift und schlecht und recht vor seinem Gedächtnis zusammenfügt: konzentriert und nüchtern, “versunken”, aber zugleich “betroffen” im doppelten Sinn des Wortes, denn was sich semantisch erschließt, beschwört eben jene Situation des unruhigen Suchens “im Gefühl der Unwissenheit”, in welcher der blind Tastende sich wiedererkennt.
Was klingt, versteht sich als beides: vielfach aus dem Phonetischen abgeleitetes und transformiertes Material und zugleich Trümmer des überlieferten Vorrats affektiver Gesten, neu gepolt als klingender Zusammenhang aus innerlich verschieden artikulierten akustischen Feldern, quasi unterschiedlich erhitzten beziehungsweise erkalteten Vulkanen. Mediterrane Klanglandschaft in unwirtlicher Höhe; eine “Pastorale”, geschrieben im Gedanken an das, was mich mit dem Komponisten des Hay que caminar verbunden hat.
(Helmut Lachenmann, 1994)
Verlangen nach Erkenntnis
So donnernd brüllt nicht das stürmische Meer, wenn der scharfe Nordwind es mit seinen brausenden Wogen zwischen Scylla und Charybdis hin und her wirft, noch der Stromboli oder Aetna, wenn die Schwefelfeuer im gewaltsamen Durchbruch den großen Berg öffnen, um Steine und Erde samt den austretenden und herausgespieenen Flammen durch die Luft zu schleudern, noch auch die glühenden Höhlen von Mongibello, wenn sie beim Herausstoßen des schlecht verwahrten Elements rasend jedes Hindernis verjagen, das sich ihrem ungestümen Wüten entgegenstellt …
Doch ich irre umher, getrieben von meiner brennenden Begierde, das große Durcheinander der verschiedenen und seltsamen Formen wahrzunehmen, die die sinnreiche Natur hervorgebracht hat. Ich wand mich eine Weile zwischen den schattigen Klippen hindurch, bis ich zum Eingang einer großen Höhle gelangte, vor der ich betroffen im Gefühl der Unwissenheit eine Zeit lang verweilte. Ich hockte mit gekrümmtem Rücken. Die müde Hand aufs Knie gestützt beschattete ich mit der Rechten die gesenkten und geschlossenen Wimpern. Und nun, da ich mich oftmals hin und her beugte, um in die Höhle hineinzublicken und dort etwas zu unterscheiden, verbot mir das die große Dunkelheit, die darin herrschte. Als ich aber geraume Zeit verharrt hatte, erwachten plötzlich in mir zwei Gefühle: Furcht und Verlangen. Furcht vor der drohenden Dunkelheit der Höhle, Verlangen aber mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte.
Leonardo da Vinci
(Deutsche Übertragung von Kurt Gerstenberg)
CDs
Helmut Lachenmann, Klangforum Wien, Ltg. Hans Zender
CD Accord 204852
Benedikt Leitner, Robert Sedlak, Klangforum Wien, Ltg. Hans Zender
CD Durian 097/098-2
Klangforum Wien, Ltg. Hans Zender, Schola Heidelberg, ensemble aisthesis, Ltg. Walter Nußbaum
CD KAIROS 0012202KAI
Bibliographie:
Clarkson, Austin: A Note on “… zwei Gefühle, Musik mit Leonardo”, in: Helmut Lachenmann – Music with matches, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 24 (2005), Vol. 1, p. 53-55
„ ,… zwei Gefühle, , Musik mit Leonardo“. Interview mit Meret Forster, in: Programmheft musica viva-Konzert, München 24. Oktober 2003, S. 7-11